Für unser Leben kämpfen

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Eine Einführung in den Anarchismus

Vorbemerkung

Anarchismus ist die revolutionäre Idee, dass niemand dein Leben besser bestimmen kann als du selbst. Anarchismus bedeutet, gemeinsam unsere individuellen Bedürfnisse zu befriedigen. Anarchismus bedeutet, miteinander zu arbeiten, nicht für oder gegen jemanden. Und wenn all dies unmöglich ist, dann bedeutet Anarchismus, den Widerstand der Unterwerfung vorzuziehen.

Anarchismus bedeutet, kein System und keine Ideologie über die Menschen zu stellen, keine Theorie über die Welt. Anarchismus bedeutet, sich auf die Seite wirklicher Menschen, Tiere und Ökosysteme zu stellen und konkret für uns selbst und für andere zu kämpfen – nicht für eine »Sache« aufgrund einer abstrakten »Verantwortung«. Anarchismus bedeutet, die Ideen einer universalen Wahrheit, Ästhetik oder Moral zurück zuweisen und gegen die Doktrin eines eindimensionalen Lebens zu opponieren, wo auch immer sie auftauchen mag.

Anarchismus bedeutet, dass du deine Begierden und Erfahrungen keiner hierarchischen Ordnung unterwirfst, sondern sie alle als wertvoll begreifst – dass du dich selber akzeptierst. Anarchismus bedeutet, dein Selbst keinen äußeren Gesetzen zu unterwerfen, deine Gefühle nicht auf das »Vernünftige« oder das »Nützliche« oder das »Politische« zu reduzieren, deine Instinkte und Leidenschaften nicht in Kategorien zu zwingen. Es gibt keinen Käfig, der groß genug ist, um Platz für die menschliche Seele und all ihre Flüge, all ihre Höhen und Tiefen zu bieten. Anarchismus bedeutet, eine Lebensform zu finden, die all deinen widersprüchlichen Neigungen freies Spiel lässt, während du sie ständig herausforderst und änderst.

Anarchismus bedeutet, nicht einen Moment des Lebens über einen anderen zu stellen. Anarchismus bedeutet, nicht in Nostalgie für die guten alten Tage zu schwelgen oder auf ein Morgen zu warten (oder – wenn wir schon dabei sind – auf die Revolution). Es geht darum, unser Leben genau in diesem Moment zu ergreifen und zu schaffen. Natürlich werden wir uns an Erinnerungen erfreuen und für die Zukunft planen – aber wir werden uns gleichzeitig bewusst sein, dass es nur einen Moment gibt, in dem Glück, Widerstand, Leben wirklich geschieht: Jetzt, Jetzt, Jetzt!

Anarchismus bedeutet, dass du dich weigerst, die Verantwortung für dein Leben anderen zu überlassen – weder deinen Bossen noch deinen Eltern noch deinen LiebhaberInnen noch der Gesellschaft. Er bedeutet, die Suche nach Sinn und Glück in deinem Leben selbst zu bestimmen.

Mehr als alles bedeutet Anarchismus, dieses Manifest genauso wenig wie irgendein anderes so zu akzeptieren, wie es ist, sondern es für dich selbst (neu) zu schaffen.

Für unser Leben kämpfen

Wenn Menschen mich nach meiner Politik fragen, sage ich: Der beste Grund dafür, ein Revolutionär zu sein, ist der, dass diese Form zu leben schlicht die bessere ist. Die Gesetze der Herrschenden garantieren uns das Recht auf ein öffentliches Verfahren vor uns gleichgestellten Geschworenen, »a jury of our peers«. (Obwohl meine peers mich nicht vor Gericht stellen würden – deine?) Aber was ist mit dem Recht darauf, unser Leben so zu leben, als würden wir keine zweite Chance haben? Was mit dem Recht auf ein Leben, das uns dazu zwingt, die ganze Nacht aufzubleiben, weil es so viel zu erzählen gibt? Auf ein Leben, das uns nie mit Bedauern oder Bitterkeit auf einen Tag zurückblicken lässt? Diese Rechte sind es, die wir uns nehmen müssen. Sollte nicht dies unsere Priorität sein? Anstelle der Sorge, den Regeln zu folgen und einfach irgendwie zu überleben?

Für diejenigen von uns, die Gefangene eines Systems sind, das von dem Blut und Schweiß anderer Gefangener erhalten wird, die noch weniger Glück hatten als wir, ist es ein lebenslanges (und wunderbares) Projekt, der Herausforderung gerecht zu werden, ein Leben zu führen, das es wert ist, gelebt zu werden – ein Leben voll von Geschichten, die es wert sind, erzählt zu werden. Was es braucht, um diese Herausforderung anzunehmen, ist, unsere Gefangenschaft in jedem Moment zu bekämpfen. In diesem Kampf kämpfen wir für unser Leben.

Es ist wahr. Wenn eure Vorstellungen davon, wie Menschen miteinander umgehen sollten, einem Abendessen mit FreundInnen gleicht – bei dem alle die Gesellschaft der anderen genießen, Aufgaben freiwillig und unkompliziert teilen und bei dem niemand Anweisungen gibt oder irgendetwas verkauft –, dann seid ihr AnarchistInnen. Schlicht und einfach. Die einzige Frage ist, wie oft es euch gelingt, Situationen wie diese zu schaffen.

Wann immer ihr eine Entscheidung trefft und handelt, ohne auf Anweisungen oder offizielle Erlaubnis zu warten, seid ihr AnarchistInnen. Jedes Mal, wenn ihr euch an einer lächerlichen Regel vorbeischwindelt, seid ihr AnarchistInnen. Wenn ihr weder den Entscheidungen der Regierung noch der Managerklasse noch dem Schulsystem noch Hollywood noch sonst irgendwem oder irgendwas vertraut, seid ihr AnarchistInnen. Und im Besonderen seid ihr AnarchistInnen, wenn ihr stattdessen eure eigenen Ideen, Projekte und Lösungen habt.

Wie ihr sehen könnt, ist es der Anarchismus, der die Dinge am Laufen hält und das Leben interessant macht. Wenn wir immer nur auf die Autoritäten und ExpertInnen und TechnokratInnen warten würden, damit diese sich um alles kümmern, würden wir nicht nur in gewaltige Schwierigkeiten geraten, sondern unsere Welt wäre auch furchtbar langweilig. Je mehr Eigenverantwortung und Eigenkontrolle wir aufgeben, desto näher kommen wir einer solchen Welt. Dies zeigt sich heute deutlicher denn je.

Anarchismus liegt als Potential in jedem Menschen. Dies hat nichts mit dem Werfen von Bomben oder dem Tragen schwarzer Masken zu tun, auch wenn ihr das im Fernsehen vielleicht gesehen habt. (Glaubt ihr alles, was ihr im Fernsehen seht? Das ist nicht anarchistisch!) Die Wurzel des Anarchismus ist der einfache Impuls, Sachen selbst in die Hand zu nehmen. Alles andere folgt daraus.

Funktioniert Anarchie?

Menschen, die wenig von Geschichte verstehen, behaupten oft, dass Anarchie niemals funktionieren kann. Sie begreifen dabei nicht, dass Anarchie, historisch gesehen, nicht nur für den Großteil der Menschheit funktioniert hat, sondern dass sie auch genau jetzt funktioniert. Wir brauchen noch nicht einmal die Pariser Kommune, das republikanische Spanien, Woodstock, Open-Source-Software oder andere berühmte Fälle eines erfolgreichen revolutionären Anarchismus an zuführen. Anarchie ist einfach kooperative Selbstbestimmung und als solche Teil unseres täglichen Lebens – nicht etwas, das erst »nach der Revolution« passieren wird. Anarchie funktioniert heute für Gemeinschaften von FreundInnen überall – die Frage ist, wie wir immer mehr Aspekte unseres sozialen und ökonomischen Lebens anarchistisch gestalten können. Anarchie offenbart sich, wenn Menschen auf einem Campingausflug kooperieren oder freie Mahlzeiten für Obdachlose kochen – die Frage ist, wie wir diese Erfahrungen auf unsere Schule, unseren Arbeitsplatz und unsere Wohnviertel ausdehnen können.

Werfen wir einen Blick auf die Chaostheorie: Anarchie ist Chaos, und Chaos ist Ordnung. Jedes natürlich geordnete System – ein Regenwald, eine solidarische Wohngemeinschaft – ist ein harmonisches System, dessen Ausgeglichenheit sich Chaos und Zufall verdankt. Im Gegensatz dazu kann systematische Unordnung – Schuldisziplin, genetische Modifikation – nur von immer größerem Machtaufwand aufrechterhalten werden. Menschen, die meinen, Unordnung sei schlicht die Abwesenheit von System, verwechseln Unordnung mit Anarchie. Unordnung ist das erbarmungsloseste System von allen: Unordnung und ungelöste Konflikte systematisieren sich schnell und schaffen Hierarchien, die ihren erbarmungslosen Anforderungen entsprechen. Das Resultat sind Selbstsucht, Herzlosigkeit, Machtstreben. Unordnung in seiner am weitest entwickelten Form ist Kapitalismus: der Krieg aller gegen alle. Herrsche oder werde beherrscht! Verkaufe oder werde verkauft! Von der Erde bis zum Himmel…

Wir leben in Zeiten besonders ausgeprägter Hierarchien und besonders ausgeprägter Gewalt. Die Wahnsinnigen, die denken, dass sie von diesen Hierarchien profitieren, erklären uns, dass die Gewalt ohne sie viel schlimmer wäre. Sie verstehen nicht, dass die Gewalt in den Hierarchien selbst liegt. (Egal, ob sie sich nun in Form ökonomischer oder politischer Ungleichheiten ausdrücken.) Dies soll nicht heißen, dass das gewaltsame Umstürzen der Hierarchien das sofortige Ende aller Gewalt bedeuten würde – die Hierarchien schaffen nicht nur Gewalt, es liegt ihnen auch Gewalt zugrunde. Trotzdem kann es keinen Frieden geben, bis wir alle frei genug sind, um uns aus eigenen Stücken miteinander zu vereinen – und nicht unter den Gewehren, welche diejenigen auf uns richten, die von unserer Uneinigkeit profitieren.

Das gegenwärtige System stützt sich freilich auf mehr als die Macht der Gewehre, auf mehr als die Hierarchien oder den Imperativ des »Töte oder werde getötet!«. Es stützt sich auch auf den Mythos seines Erfolgs. Die offizielle Geschichtsschreibung erklärt uns die Geschichte als eine Spielwiese großer Männer, ihrer Handlungen und deren Konsequenzen. Dieser Logik zufolge gibt es nur wenige Subjekte der Geschichte – die meisten von uns sind nichts als deren Objekte. Hierarchien bauen auf der Idee auf, dass es nur einen wirklich »freien« Mann gibt: den König (oder den Präsidenten, Geschäftsführer, Filmstar usw.). Nachdem dies angeblich immer so war und immer so sein wird, werden wir dazu ermutigt, darum zu kämpfen, dieser Mann zu werden – oder, wenn uns das nicht gelingt, die Position, zu der wir es gebracht haben, dankbar zu akzeptieren, froh, dass es auch unter uns noch welche gibt, auf die wir treten können, wenn wir uns unseres eigenen Werts versichern wollen.

Aber selbst der König besitzt nicht die Freiheit, spazieren zu gehen, wo er will. Doch warum sollten wir uns nur mit einem Teil der Welt zufrieden geben? Oder gar keinem? Wo es keine Gewalt gibt – in den egalitären Betten wirklicher Liebender, in der Demokratie hingebungsvoller Freundschaften, in den Festen Gleichberechtigter, in den Plaudereien mit NachbarInnen –, sind wir alle Königinnen und Könige. Ob Anarchie nun darüber hinaus verwirklichbar ist oder nicht, eines ist klar: Hierarchie kann nicht die Antwort sein. Seht euch die Modellstädte der »neuen Ordnung« der Welt an. Setzt euch beispielsweise in einen Stau, mitten unter AutofahrerInnen, die in ihren Privatfahrzeugen in isolierter Einigkeit schwitzen und fluchen, ein vergiftetes Meer zur Linken und ein von uniformierten und nicht-uniformierten Gangs umkämpftes Ghetto zur Rechten – und preist dann die Herrlichkeit menschlichen Fortschritts. Wenn das Ordnung ist, warum nicht Chaos probieren?

Anarchie, nicht Anarchismus!

Zu sagen, dass AnarchistInnen sich dem Anarchismus verschreiben, macht ungefähr so viel Sinn, wie zu sagen, dass sich PianistInnen dem Pianismus verschreiben. Es gibt keinen Anarchismus – aber es gibt Anarchie, oder vielmehr: Anarchien.

Seit die Macht existiert, existiert der Geist der Anarchie (ob er nun so genannt wurde oder nicht), der ebenso Millionen vereint wie die Widerstandskraft Einzelner gestützt hat. Die Beispiele sind endlos: die SklavInnen und die »Wilden«, die für ihre Freiheit gegen die Römer kämpften und in bewaffneter Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit lebten; die Mütter, die ihre Töchter lehrten, zum Trotz aller Diätreklamen ihre Körper zu lieben; die RebellInnen, die ihre Gesichter bemalten und Tee in den Hafen von Boston warfen; und all die anderen, die sich zu eigenständigem Handeln entschlossen, ob sie sich nun Ranters, TaboritInnen, KommunardInnen, AbolitionistInnen, Yippies, SyndikalistInnen, QuäkerInnen, Madres de Plaza de Mayo, Food Not Bombs, Libertäre oder selbst RepublikanerInnen nannten – sie alle waren AnarchistInnen. Und auch wir sind AnarchistInnen, wenn wir eigenständig handeln, und auch hier gibt es zahlreiche Beispiele: So gibt es heute genauso viele AnarchistInnen wie es SchülerInnen gibt, die die Schule schwänzen, Eltern, die ihre Steuern nicht bezahlen, Frauen, die Fahrräder zusammenbauen, Liebende, die außerhalb der Normen begehren. Um AnarchistInnen zu sein, müssen sie nicht eine anarchistische Partei wählen oder einer Parteilinie folgen – tatsächlich würde sie genau das zu Nicht-AnarchistInnen machen, zumindest in den Momenten, in denen sie dies tun. Anarchie ist eine Seinsweise, eine bestimmte Art, mit sozialen Bedingungen umzugehen und sich zu anderen Menschen in Beziehung zu setzen. Anarchie ist ein Typus oder eine Klasse menschlichen Verhaltens … und nicht die der »arbeitenden« Klasse!

Vergesst die Geschichte des Anarchismus als »Idee« – vergesst die Männer mit den Bärten! Es ist eine Sache, etwas zu formulieren – es ist eine völlig andere, es zu leben. Es geht nicht um Theorien oder Heilsformeln, HeldInnen oder Biographien – es geht um euer Leben! Es geht um die Anarchie, nicht um Salonanarchismus – Erstere ereignet sich überall, Letzterer ist das Studium der Freiheit, betrieben von einigen SpezialistInnen. Es gibt selbsternannte AnarchistInnen, die niemals Anarchie erlebt haben. Wollt ihr diesen wirklich vertrauen?

Wie soll die anarchistische Utopie aussehen? Dies ist eine Fangfrage, eine Frage, die uns dazu bringen soll, uns zu streiten – sie ist eine Finte, ein Ablenkungsmanöver. Es geht nicht um eine Utopie, ein Programm oder ein Ideal. Es geht darum, einen Weg zu verfolgen, Beziehungen zu schaffen, sich mit Problemen auseinanderzusetzen – dieser Prozess wird nie enden. AnarchistIn zu sein, bedeutet, nicht zu glauben, dass die Anarchie – geschweige denn der Anarchismus – alle unsere Probleme lösen wird. Es bedeutet nur einzusehen, dass es an uns selbst liegt, unsere Probleme anzugehen, und dass niemand und nichts dies für uns tun kann. Es bedeutet einzugestehen, dass – ob es uns gefällt oder nicht – unser Leben in unseren eigenen Händen liegt.

Ist dies Demokratie?

AnarchistInnen benutzen Demokratie – aber wir erlauben der Demokratie nicht, uns zu benutzen. Das Einzige, was für uns in Prozessen der Entscheidungsfindung zählt, sind die Bedürfnisse und Gefühle der betroffenen Personen. Die Methoden der Entscheidungsfindung selbst sind nie mehr als provisorisch. Wir wenden bestimmte Methoden an, wenn sie menschlichen Bedürfnissen dienen, darüber hinaus haben sie keine Bedeutung für uns. In jedem Fall erlauben wir keinen Methoden, uns in formale Zwänge zu sperren. Soll die Priorität bei irgendwelchen Systemen liegen – oder bei uns?

Wir werden mit anderen Menschen – und allen Lebensformen – zusammenarbeiten, wann immer dies möglich ist. Aber wir unterwerfen uns nicht der Vorstellung des Konsenses, geschweige denn der Herrschaft irgendeines Gesetzes, das über unsere Werte und Träume gebietet. Wenn wir zu keiner Übereinstimmung gelangen können, gehen wir unsere eigenen Wege, anstatt uns gegenseitig einzuschränken. In extremen Fällen – wenn andere sich weigern, unsere Bedürfnisse anzuerkennen oder mit ihrem Handeln skrupellos und wiederholt anderem Leben schaden – wird es zu Auseinandersetzungen kommen. Nicht im Namen der Gerechtigkeit oder um Vergeltung zu üben, sondern schlicht, um unsere eigenen Interessen zu behaupten.

Gesetze sind für uns wenig mehr als die Schatten der Sitten derjenigen, die vor uns kamen. Sitten, die über einen längeren Zeitraum verteidigt wurden und somit weiser wirken als unsere eigenen. Sie sind wie Zombies, die unserer Freiheit willkürliche Beschränkungen auferlegen. Sie haben nichts mit Gerechtigkeit zu tun, sondern stehen dieser höchstens im Weg, entfremden uns ihr und reduzieren sie auf obskure Formalitäten unter den Perücken irgendwelcher RichterInnen. Die Gesetze, die im Laufe der Jahrzehnte unter dieser Logik geschaffen wurden, sind heute so zahlreich, unüberschaubar und unergründlich, dass es einer Priesterklasse von JuristInnen bedarf, die (auf unsere Kosten) davon lebt, die Nachrichten, die uns unsere wohlmeinenden Vorfahren in Form dieser Gesetze hinterlassen haben, zu deuten. Der Mensch, der darauf besteht, dass Gerechtigkeit nur von der Herrschaft des Gesetzes aufrechterhalten werden kann, ist derselbe Mensch, der auf dem Zeugenstand beim Kriegsverbrechertribunal erscheint und schwört, dass er nur Befehlen gehorcht hat. Es gibt keine Gerechtigkeit – es gibt nur uns. (»There’s no Justice – it’s just us.«)

Ökonomie und Anarchie

Anarchistische Ökonomien unterscheiden sich radikal von anderen Ökonomien. AnarchistInnen tauschen nicht nur anders, sie tun dies auch in einer völlig anderen Währung: in einer, die nicht in ein Vermögen konvertiert werden kann, um das sich KapitalistInnen streiten oder für die KommunistInnen Fünf-Jahres-Pläne erstellen. KapitalistInnen, SozialistInnen, KommunistInnen tauschen Produkte; AnarchistInnen tauschen Hilfe, Inspiration, Loyalität. Kapitalistische, sozialistische, kommunistische Ökonomien machen menschliche Beziehungen zu Waren: Administration, Gesundheitsfürsorge, Ausbildung, sogar Sex werden zu Dienstleistungen, die gekauft und verkauft werden. Anarchistische Ökonomien, die sich primär auf die Bedürfnisse und Begierden der involvierten Individuen konzentrieren, machen aus Produkten wieder soziale Beziehungen: die kommunale Erfahrung von Gartenarbeit oder dumpster diving oder gemeinsamen Musikmachen; das Besetzen eines Hauses; das High des Ladendiebstahls im Supermarkt. Die charakteristische ökonomische Beziehung des Kapitalismus ist der Kauf – diejenige der Anarchie ist das Geschenk.

Anarchistische Ökonomien basieren auf sozialem Kapital – dem Gegenteil des Privateigentums. Privates Kapital kennt nur zwei Anwendungsmöglichkeiten: entweder es verschwindet (wie das Gehalt der TagelöhnerInnen, wenn sie sich nach der Arbeit ihr Essen kaufen) oder (wenn genug davon vorhanden ist, wie im Falle der Konzerne, welche die TagelöhnerInnen ausbeuten) es wird dazu verwendet, um auf Kosten anderer immer mehr Kapital zu schaffen. Soziales Kapital hingegen gibt es ständig im Überfluss und für alle. Und je mehr wir dazu beitragen, desto stärker wird es und dient uns selbst: vom Gemeinschaftsgarten, der desto mehr Essen produziert, je mehr Menschen sich seiner annehmen, bis zum besetzten Haus, das desto besser funktioniert und verteidigungsfähiger ist, je mehr Menschen an seiner Gestaltung und seinen Aktivitäten mitarbeiten. Die Beispiele sind endlos, von unseren Freundschaften und Liebesbeziehungen zu gemeinschaftlichen Mahlzeiten und Festen: Je mehr wir als Individuen geben, desto mehr erhalten alle.

Die meisten von uns bewegen sich heute sowohl in anarchistischen wie in kapitalistischen Ökonomien. So wird manches, das allgemein als Privateigentum gilt, manchmal immer noch gemeinschaftlich verwendet bzw. geteilt – zum Beispiel wenn wir unseren Basketball für ein Spiel mit anderen im Park mitnehmen oder eine Rockband sich gemeinsam einen Bus kauft. Selbst in den Häusern der Mittelklasse – tabu für die meisten – finden in der Regel immer noch Verwandte Aufnahme, werden P.T.A.-Treffen organisiert, finden Partys statt. All diese Gelegenheiten erinnern uns daran, wie viel mehr Spaß Teilen macht als Kommerz. AnarchistInnen arbeiten für eine Welt, in der das Teilen keine Grenzen kennt.

Hedonismus

Was gut für andere ist, ist gut für uns, da unsere Welt von unseren Beziehungen zu anderen bestimmt wird. Anderen auf Kosten eigener Bedürfnisse und Wünsche zu dienen, hilft jedoch niemandem. Um glückliche WeggefährtInnen anderer sein zu können – was vielleicht das Wertvollste ist, das wir anzubieten haben –, müssen wir selber glücklich sein. Selbst vs. Andere, Eigennutz vs. Selbstlosigkeit sind für uns falsche Dichotomien (alle Dichotomien sind falsch). Die Vorstellung, sich selbst für das »gemeinschaftliche Wohl« zu opfern, ist genauso in dem Konkurrenzmodell von »Individuum vs. Gesellschaft« gefangen wie das Streben nach »individueller Unabhängigkeit «. Für uns sind sowohl Individuen als auch Gemeinschaften Momente im unendlichen Spiel des Lebens, die untrennbar miteinander verbunden sind und einander entsprechen. Die Freiheit und Selbstbestimmung, die wir wertschätzen, sind nur möglich im Kontext einer Kultur, die wir gemeinsam schaffen; doch dieser kollektive Schaffensprozess ist ohne individuellen nicht möglich.

All das heißt: Wenn ihr euch selbst retten könnt, könnt ihr die Welt retten – aber ohne die Welt zu retten, werdet ihr euch selbst nicht retten können.

Eine Gemeinschaft von FreundInnen und Liebenden

Wenn AnarchistInnen vorschlagen, dass wir alle unsere sozialen Beziehungen nach dem Beispiel der Freundschaft – oder der Familie – gestalten sollen, geht es uns vor allem um die Qualitäten, die der Freundschaft zugrunde liegen: Verlässlichkeit, Großzügigkeit, Güte. Die meisten von uns sind seit ihrer Geburt in Zusammenhängen von Hierarchie und Konkurrenz sozialisiert worden, und so wird es schwierig, sich anderen gegenüber auf Weisen zu verhalten, die befreiend sind anstatt einschränkend – und doch geschieht dies andauernd! Wir alle wollen auch geben, ohne zu nehmen. Wir alle wollen in den Spiegel schauen können, ohne uns schämen zu müssen. Es ist behauptet worden, dass wir gegen die Ehe sind, aber das Gegenteil trifft eher zu: Ja, wir verwehren uns dagegen, dass ein Mensch das Eigentum eines anderen ist, aber wir unterstreichen, dass wir alle auf diesem Planeten praktisch miteinander verheiratet sind; und wir bestehen darauf, dass wir uns alle dementsprechend verhalten.

Keine dieser Ausführungen soll nahe legen, dass wir dafür sind, SoldatInnen mit Blumen zu begrüßen, wenn sie kommen, um unsere Kinder zu holen – ebenso wenig werden wir irgendwelchen Konzernen unsere Kinder anbieten, wenn sie von uns Blumen haben wollen. Manchmal muss die Liebe durch den Lauf des Gewehres sprechen.

Selbstbestimmung beginnt zuhause

Weder Erwartung noch Doktrin noch Zwang dürfen uns dazu verleiten, einen Teil unseres Selbst über andere zu stellen. Wir dürfen uns nicht auf die Seite mancher unserer Begierden schlagen, nicht unser eigenes ewiges Gerichtsverfahren inszenieren, nicht über unsere Empfindungen Urteil sprechen. Wir dürfen Unwissenheit nicht mit Untätigkeit schützen, sondern müssen aus unseren Fehlern lernen und auf diese Weise klüger werden. Wir dürfen nicht einen Pfad im Leben allen anderen vorziehen, sondern müssen alle eindimensionalen Konzepte verwerfen. Wir müssen jedem Impuls und jeder Sehnsucht in uns Ausdruck verleihen, wenn wir die Zeit dafür gekommen sehen. Wir müssen das wertschätzen, was in der Verwirrung fruchtbar ist. Dies muss mit dem Bewusstsein geschehen, dass wir Teil einer Gemeinschaft sind, die uns bedingungslos wertschätzt – so wie wir andere bedingungslos (und vollständig) wertschätzen, da sie ein Teil von uns sind. Ohne Hackordnung und (innere wie äußere) Machtstruktur zu leben – das ist der anarchistische Traum des Selbst.

Direkte Aktion bringt’s

Eine Gemeinschaft, in der Menschen ihre eigenen Aktivitäten bestimmen und sich um einander kümmern, braucht keine Gefängnisse und keine Fabriken, damit es »Arbeit« gibt. Eine Gemeinschaft, in der Menschen einander selbst mit Information versorgen, braucht keine Medienkonzerne, um die »Wahrheit« zu erfahren. In einer Gemeinschaft, in der Menschen ihre eigene Musik und Kunst schaffen und ihre eigenen Veranstaltungen organisieren, würde es keinen Platz für das lähmende Spektakel von MTV geben, geschweige denn für Online-Dating oder Pornographie. In einer Gemeinschaft, in der Menschen einander kennen und die Wünsche anderer verstehen, können Probleme gelöst werden, ohne dass sich uniformierte und bewaffnete Fremde einmischen. Der Grad, in dem wir unsere gegenwärtigen Schwierigkeiten meistern können, hängt vom Grad der Entwicklung dieser Gemeinschaften ab. Keine Gesetzgebung und kein Wohltätigkeitsverein werden uns hier helfen können.

Institutionen können nie besser sein als die Menschen, die sie bilden – und normalerweise sind sie in keinem Fall gut. Lösungen, die »von oben« kommen, haben sich immer als uneffektiv erwiesen: die Bürokratie der Gesundheitsprogramme, die Ineffizienz sozialer Wohlfahrtsprogramme, die Lügen der PräsidentInnen. »Wenn du den Menschen nicht traust, kannst du der Polizei erst recht nicht trauen.«

Alle Götter und Herrschende…

Anarchismus ist aristokratisch – nur sind wir alle die Aristokratie. Als AnarchistInnen betonen wir, dass der Kampf des »einfachen Volkes« der Kampf der außerordentlichen Frauen und Männer werden kann, die er produziert.

Wir glauben nicht, dass es irgendwelche Abkürzungen zur Anarchie gibt. Es geht uns nicht darum, die »Massen« zu führen, sondern eine Gemeinschaft selbstständiger Menschen zu etablieren. Wir wollen keine Avantgarde von TheoretikerInnen sein, sondern LeserInnen dazu inspirieren, selbst zu AutorInnen zu werden. Wir wollen ebenso wenig eine Avantgarde von KünstlerInnen sein, sondern ein Publikum von KünstlerInnen schaffen. Es geht uns weniger darum, Macht zu zerstören, als darum, sie im Überfluss für alle zugänglich zu machen. Wir wollen Herrschende ohne Sklaven sein.

Wir akzeptieren, dass Machtkämpfe und Machtdynamiken immer Teil menschlichen Lebens sein werden. So haben viele von uns eine »tyrannische Muse«, der wir gehorchen – doch wir tun dies freiwillig und erlauben der Muse nur zu befehlen, wenn uns dies gefällt. Wie das Sprichwort sagt, sind die einzigen freien Menschen der Bettler und der König. Wobei der König der weniger freie der beiden ist – schließlich ist ihm sein Königreich immer noch eine Bürde und schränkt ihn ein, während sich die Hobos an ihren glücklichsten Tagen fühlen können, als würde der Kosmos nur zu ihrem Vergnügen und zu ihrer Freiheit existieren. Wir weigern uns, in den Kampf um Trivialitäten wie Eigentum oder Autorität einzutreten. Allgemein gesprochen: Wenn Kampf unvermeidlich ist, sehen wir uns lieber der Gewalt und Willkür anderer Individuen ausgeliefert als der Gewalt und Willkür des Staates.

Wir sind keine EgalitaristInnen im herkömmlichen Sinne. Es geht uns nicht darum, die Reichen und Mächtigen auf ein niedrigeres Niveau herabzuziehen. Wir bedauern vielmehr, dass sie nicht ehrgeizig genug sind und ihre Privilegien nicht aufgeben, um dabei mitzuhelfen, allen das höchste Niveau zu ermöglichen (in welchem Fall wir auch darum herum kämen, sie zu guillotinieren). Wir haben nichts gegen die Verehrung, die Popidolen und Filmstars zukommt – wir bedauern nur die Tatsache, dass diese Verehrung an ferne Ikonen verschwendet wird, wenn sie eigentlich den wunderbaren Momenten unseres eigenen abenteuerlichen Lebens gelten sollte. Wir haben nichts gegen die Ergebenheit, die der Gott der MonotheistInnen erfährt – wir fänden es schlicht besser, wenn wir uns gegenseitig ergeben wären. Wir haben, genau genommen, auch nichts gegen das Eigentum, sondern wenden uns nur gegen die Albernheit, sich über Eigentum zu streiten. Wir meinen, dass wir die Welt teilen müssen, anstatt sie zu zerstören, wenn wir sie wirklich beherrschen wollen. Der wahre Bettlerkönig wandert stolz durch die unendlichen Wälder, die er besitzt, bewundert die Vielfalt der Lebensformen und weiß, dass die einzig angemessenen Prinzipien für den Monarchen einer solch wunderbaren Welt Dankbarkeit und Zurückhaltung sind (außer, wenn es darum geht, gelegentlich die Arbeit eines Holzkonzerns zu sabotieren). Wir warten nicht auf die eine große Revolution, um die Rechte zu erhalten, die wir verdienen. Nachdem wir selbst die höchsten Autoritäten sind, die wir anerkennen, nehmen wir uns diese Rechte selbst, und zwar genau jetzt. Unsere Revolution besteht in der permanenten Bekräftigung und Verteidigung dieser Rechte. Wir werden nichts weniger akzeptieren als die totale Weltherrschaft – für jedes Individuum und für uns alle gemeinsam.

…und jeder Gott ein Atheist

AnarchistInnen weisen nicht nur die Autorität Gottes (dem Polizeichef des Universums) zurück, sondern begegnen auch allen seinen NachfolgerInnen mit tiefer Skepsis: der Natur, der Geschichte, der Wissenschaft, der Moral. Wir sollten an nichts kritiklos glauben, denn selbst wenn wir manchmal das Urteil anderer höher schätzen mögen als unser eigenes (weil wir meinen, dass diese anderen mehr über die zur Debatte stehenden Fragen wissen), sind es immer noch wir, die verantwortlich dafür sind, diesem Urteil Vertrauen zu schenken. Dementsprechend gibt es für uns kein Urteil, das jenseits jeder Kritik oder Fragwürdigkeit steht. Wir bewegen uns lieber frei zwischen verschiedenen Paradigmen, als uns über die Wahrheit zu streiten. Wir sind besonders skeptisch, was sogenannte ExpertInnen anlangt, die zwischen uns und irgendwelchen Göttern und Göttinnen oder Sphären privilegierten Wissens vermitteln wollen. Wir ziehen es vor, sowohl selbst über die Welt zu lernen als auch selbst in Kontakt mit dem Göttlichen zu treten.

Einer Gerechtigkeit in Form moralischer Urteile messen wir geringen Wert bei. Wir wollen praktisch sein und Probleme lösen, nicht auch noch menschliche Beziehungen und Verhaltensweisen zu Waren machen, die getauscht werden können (mit moralischer Selbstgerechtigkeit als Währung). Wir betonen das Prinzip persönlicher Verantwortung nur, solange es für unsere sozialen Beziehungen nützlich ist. Ob die Seele einer Person verdammt oder erlöst ist, interessiert uns ebenso wenig wie die Frage, ob das Verhalten einer Person moralisch oder unmoralisch ist oder ob der Gesellschaft oder dem Individuum die Schuld für dieses oder jenes Übel zukommt.

Behauptet jedoch nicht, dass wir nichts als heilig erachten! Im Gegenteil: Wir erachten alles als heilig! Hierarchie zurückzuweisen, bedeutet, die Einzigartigkeit und Schönheit jedes Lebewesens, jedes Ausdrucks des Kosmos, jedes Moments zu ehren. Geringschätzung und Abwertung sind uns ein Gräuel.

Graffiti on a church in Lisbon, 2001: “Without truth, you are the looser.”

Verallgemeinerung und Herrschaft

Wir alle werden in Kategorien aufgeteilt, die von Geschlecht und sexueller Orientierung über Körperstruktur und Ethnizität bis zu Klasse und Race reichen. Diese Kategorien machen einen wesentlichen Teil unserer Beherrschung aus. Wir werden mit Privilegien bestochen und mithilfe psychologischer Kriegsführung gefügig gemacht, um unsere Rolle für die Aufrechterhaltung der Hackordnung zu spielen. White Supremacy, Patriarchat und Heterosexismus sind die Grundpfeiler dieser »Zivilisation«. Wir AnarchistInnen kämpfen gegen all diese Kategorien, egal ob wir sie in der Gesellschaft oder in uns selbst antreffen. Doch wir kämpfen für mehr als die Befreiung der Menschen aller Identitäten – wir kämpfen für die Befreiung der Menschen von allen Identitäten.

Wir glauben nicht an Universalien. Kollektividentitäten sind sich selbst reproduzierende Fabrikationen, die mit Vorurteilen beginnen und mit auferlegter Uniformität enden. So gibt es beispielsweise genau zwei Geschlechter und nicht mehr, und genau zwölf Töne in einer Oktave und nicht mehr. Letzteres scheint einzuleuchten, wenn wir ein Klavier betrachten, aber wie sieht es aus, wenn wir unseren Mund öffnen und zu singen beginnen? Ähnliches gilt für unsere Bilder von »Feminität«, die angeblich nur »natürlich« sind (zumindest für alle, die in einer Gesellschaft aufwuchsen, in denen Frauen ihre Achseln und Beine rasieren): tatsächlich ist diese »Feminität« nichts als eine Verallgemeinerung, die von Generationen standardisierten Verhaltens herrührt und mit jeder weiteren Wiederholung zusätzlich bestärkt wird. Es gibt keine »Wesenheit«, auf die sich eine solche Verallgemeinerung je beziehen könnte. Es gibt bestenfalls eine Reihe individueller Beispiele, die anscheinend bestimmte Gemeinsamkeiten haben. Keine Generation ist das Original, alle sind nur Kopien. Dies bedeutet auch, dass dem herrschenden Paradigma mit jeder neuen Generation eine immense Gefahr erwächst, da sich diese Generation dazu entscheiden mag, das Paradigma zu transformieren … oder abzuschaffen.

Die einzige Weise, sich auf Verallgemeinerungen wie Klasse oder Geschlecht zu beziehen, ist eine, die gleichzeitig zu ihrer Auflösung beiträgt; das heißt eine, die ihre Herrschaftsfunktionen aufzeigt, angreift und die von ihnen unterdrückten Erfahrungen befreit. Wir wollen uns jenseits all dieser Kategorien und der in ihnen implizierten Konflikte begeben, aber dies wird nur geschehen, wenn wir beginnen, sie zu adressieren. In Männergruppen können Menschen, die als »Männer« konstruiert wurden, sich gegenseitig helfen, ihre Programmierungen kurzzuschließen und zu ändern. In Frauengruppen können Menschen, die als »Frauen« konstruiert wurden, experimentieren, ohne dabei von Männern gestört zu werden.

Gleichzeitig verteidigen wir natürlich das Recht aller Individuen, bestimmte Identitäten zu wählen, wenn sie dies tun wollen – auch wenn es uns verwundert, wenn Menschen wählen, beherrscht zu werden, auf diese oder jede andere Weise. Die Vision eines freien Lebens darf uns nicht dazu führen, die Tatsache zu verleugnen, dass es in der gegenwärtigen Welt keinen Ort gibt, der bereits völlig von ungleichen Machtverteilungen befreit wäre.

Unser Ziel ist Revolution, nicht bloße Reform. Wir geben uns nicht damit zufrieden, mehr Rechte für bestimmte soziale Gruppen einzufordern oder die Grenzen zwischen unterschiedlichen sozialen Kategorien etwas poröser zu machen. Wir nehmen und schaffen uns das Recht, uns in jedem Moment selbst (neu) zu kreieren – was unweigerlich das Ende der Kategorien und ihrer Ordnung bedeuten wird!

Wir sind FeministInnen, die das Geschlecht verwerfen, GewerkschafterInnen, die die Arbeit verwerfen, KünstlerInnen, die die Kunst verwerfen. Unser Klassenkrieg ist ein Krieg gegen die Klasse, gegen alle Klassen und gegen jede Klassifizierung. Wenn wir sagen, dass wir gegen Repräsentation sind, meinen wir damit nicht nur repräsentative »Demokratie«. Wir meinen damit, dass alle von uns einzigartige Individuen sind und dass niemand von uns für andere sprechen kann. Keine PolitikerInnen oder Abstraktionen, keine Delegierten oder Quoten können uns repräsentieren!

AnarchistInnen geht es um Revolution, nicht Krieg

Seid vorsichtig, was den »Kampf« anlangt. Nicht wenige Militante sind nur deshalb Militante, weil sie eine Ahnung von Rebellion haben, aber von wenig sonst. Sie interpretieren jede Auseinandersetzung als einen Konflikt zwischen Gut und Böse, nehmen einen kompromisslosen Standpunkt ein und ziehen Grenzen zwischen sich und »allen anderen«, bis es wirklich so aussieht, als würden sie gegen den Rest der Welt kämpfen. Für mögliche Karrieremilitante mag dies ein effektiver Weg sein, ihre Karrieren zu fördern – doch es wird kaum dazu führen, dass Menschen sich mit uns verbinden. Die meisten werden einfach aufhören, uns zuzuhören. Wer hat nicht längst genug von Selbstgerechtigkeit und Aggressivität?

Es gibt immer Kriege, die darauf warten, geführt zu werden – gegen, gegen, gegen. Das Führen dieser Kriege setzt Dualismen voraus. AnarchistInnen überwinden Kriege, indem sie diese Dualismen überwinden. D_as_ ist Revolution. Lasst euch nicht von einem existierenden Kampf und seinen Regeln einfangen.

Lasst euch nicht zu einer Spielfigur seiner Strategie machen. Vermeidet die Logik der Konflikte von »Demokratie vs. Terrorismus« oder »Freiheit vs. Macht«. Überwindet stattdessen die Voraussetzungen dieser Konflikte, damit Menschen auf Weisen zusammenkommen können, die für unmöglich gehalten wurden, um das gesamte Paradigma des Kampfes zum Sturz zu bringen.

Keine Position, sondern eine Proposition

Wenn ihr Aufstand entfachen wollt, zieht also keine Linie zwischen euch selbst und dem Rest der Welt. Droht nicht denen, die ihr auf der »anderen Seite« seht. Propagiert kein universelles Programm, rekrutiert nicht, und, um Himmelns Willen!, erzieht nicht die »Massen«. Versucht nicht, Menschen von eurer Meinung zu überzeugen – ermutigt sie stattdessen, ihre eigenen Meinungen zu bilden. Eine Vielfalt von Ideen ist anarchistischer als die anarchistische Idee. Jede zentrale Organisation oder Autorität, die Aufstand anordnet, tötet dabei nur Selbstbestimmung. Selbstbestimmung alleine erlaubt Individuen jedoch, die Freiheit aller zu fördern und sich in gemeinsamen Widerstand zu vereinen. Selbstbestimmung bzw. Unabhängigkeit ist, wie alle guten Dinge, im Überfluss vorhanden. Es bedarf keines Zentralkomitees, das sie an Untergebene verteilt, die dafür Schlange stehen.

Wenn es um Denkanstöße geht, versucht nicht, die Wahrheit zu sagen. Bringt die Wahrheit durcheinander, unterminiert sie, schafft einen Raum, in dem sich neue Wahrheiten bilden können. Werft Fragen auf, anstatt Antworten zu geben. (Aber denkt daran, dass nicht alle Fragen mit einem Fragezeichen enden…) Für Revolutionäre liegt die Bedeutung einer Aussage in ihren Effekten – nicht in ihrer »objektiven Wahrheit«. Wir überlassen solche Ansprüche Philosophen und anderen Halunken.

Der Anarchismus ist ein Paradox…

…aber er ist die Art Paradox, die wir AnarchistInnen genießen: Menschen aufzufordern, für sich selbst zu denken; Macht zu ergreifen, um sie abzuschaffen; dem Krieg den Krieg zu erklären – all dies sind Widersprüche. Doch es ist eine gute Taktik, offen heuchlerisch zu sein, wenn du willst, dass die Aufständischen dich gemeinsam mit den Autoritäten absetzen! Eine schwarze Fahne zu hissen, um unsere Abneigung gegen Fahnen zu demonstrieren, klingt unsinnig – in Zeiten, in denen so viele Fahnen gehisst werden, dass Fahnenlosigkeit als passive Akzeptanz interpretiert wird, mag solcher Unsinn jedoch Sinn machen. In jedem Fall besser eine schwarze Fahne als eine weiße!

Schafft Impulse!

Schafft Impulse! Sitzt nicht in endlosen Treffen, um zu bestimmen, wann ihr euch das nächste Mal treffen werdet, um dann zu bestimmen, was ihr wie bei euren Treffen besprechen wollt. Wenn einige masochistische GenossInnen den seltsamen Zwang verspüren, Wochen, Monate, selbst Jahre damit zu verbringen, die Formulierung eines »Programms« auszuhandeln, zu dem sich alle bekennen können, um dann einige weitere Jahre internen Streitigkeiten und Spaltungen zu opfern, dann lasst sie dies tun – aber fühlt euch nicht verpflichtet, euch anzuschließen, nur um zu beweisen, wie treu ihr der Revolution seid. Fühlt euch nicht verpflichtet, euch irgendetwas anzuschließen – das ist eure Revolution!

Schafft Impulse! Verlangt nicht Veränderung – führt sie mit euren Aktionen durch. Alles, was ihr erreichen könnt, müsst ihr selbst mit euren WeggefährtInnen erreichen – und das ist eine Menge: wie ihr eure Würde in einer verrückten Welt bewahrt; wie ihr eure eigene Lebensgeschichte schreibt und damit andere inspiriert. Euren Begierden gemäß zu handeln, lässt euch in Einklang mit ihnen leben – ansonsten müsst ihr eure Lebensenergie dafür aufbringen, eure Begierden zu verleugnen. Springt die Straße hinunter, wenn ihr glücklich seid, brennt ein Gebäude nieder, wenn es euch entrüstet. Liebt die Blumen auf dem Schlachtfeld – es ist leichter, sich der Liebe hinzugeben, wenn ihr bereit seid, für sie zu kämpfen. Wenn ihr eure eigenen geheimsten Wünsche auslebt, werdet ihr sehen, dass ihr auch die anderer auslebt. Findet Projekte, die euch begeistern – Projekte, die euch in Situationen bringen, in denen ihr vollständig im Hier und Jetzt aufgeht. Habt keine Angst, unrealistisch zu sein – es ist genau das Unreale, das realisiert werden muss. Ihr könnt nicht schöpferisch sein, wenn ihr nicht träumen könnt!

Schafft Impulse! AnarchistInnen geben keine Instruktionen – sie schaffen Möglichkeiten. Helft anderen, sich selbst Möglichkeiten zu schaffen, indem ihr Beispiele setzt. Bietet Unterstützung an, teilt eure Fähigkeiten mit anderen, schafft Bedingungen, unter denen alle Menschen ihre eigenen radikalen Begierden aktiv ausdrücken können. Ihr werdet überrascht sein, wer sich alles einfinden wird, um den Feind in den Straßen zu bekämpfen, wenn sich die Chance bietet!

Unterschreibt nicht seufzend Petitionen, posiert nicht für Kameras, wartet nicht auf »günstige Gelegenheiten«. Reiht euch stattdessen in Stadtumzüge und Straßenfeste ein; verschafft euch Eintritt in verlassene Häuser, um sie mit riesigen Transparenten zu schmücken; sprecht Fremde an; experimentiert mit eurer Sexualität; kurz, haltet permanent das Gefühl aufrecht, dass etwas passiert! Lebt so, als würde die Zukunft von jeder eurer Taten abhängen, und ihr werdet sehen, dass dies der Fall sein wird. Wartet nicht darauf, dass ihr selbst auftaucht – ihr seid bereits da! Schafft eure eigenen Lebensmöglichkeiten und macht aus ihren Ketten Windspiele.

Schafft Impulse!

Wunderbare AnarchistInnen begehren euch

Dieser Tage kann es schwierig, ja furchteinflößend sein, als AnarchistIn zu leben. Ihr mögt zu denjenigen gehören, die ihren Anarchismus verstecken, zumindest in bestimmten Situationen, damit andere (genauso ängstlich, und wahrscheinlich aus denselben Gründen) euch nicht anklagen, zu idealistisch oder zu »unverantwortlich « zu sein. (So als wäre es nicht »unverantwortlich«, den Planeten zu Grunde zu richten.)

Ihr solltet nicht so schüchtern sein – ihr seid nicht alleine. Es gibt Millionen von uns, die darauf warten, dass ihr euch zeigt; Millionen, die bereit sind, euch zu lieben und mit euch zu lachen und mit euch Seite an Seite für eine bessere Welt zu kämpfen. Folgt eurem Herzen zu den Plätzen, an denen wir uns treffen werden. Kommt bitte nicht zu spät!

Okay, ich bin interessiert. Was tu ich als nächstes?

Wir wollen nicht rüde sein, aber: Habt ihr nicht aufgepasst? Wir wollen euch nicht zu einer Religion bekehren oder dazu bewegen, eine Partei zu wählen – im Gegenteil!

Das Beste (und das Schwierigste) an allem, was wir gesagt haben, ist, dass alles ganz in euren Händen liegt!


Vielen dank an Gabriel Kuhn für die Übersetzung.

Diese Übersetzung stammt ursprünglich aus dem von Gabriel herausgegebenen Buch ‚Neuer Anarchismus‘ in den USA: Seattle und die Folgen und ist ebenfalls in Message in a Bottle erschienen.