Russland und die Ukraine: Widerstand von unten gegen Putins Invasion

Categories:

In diesem Kurzbericht geben wir einen Überblick über die aktuellen [24.02.2022] Widerstandsaktivitäten gegen die russische Invasion in der Ukraine – sowohl aus russischer Perspektive, von jenen, die unter den repressiven Bedingungen der russischen Gesellschaft leben, als auch von ukrainischer Seite, die die volle Wucht der militärischen Angriffe zu spüren bekommen. Es gäbe noch viel mehr zu diesem Thema zu sagen, als wir hier behandeln können. Wir werden in Kürze auf Analysen zurückkommen, aber jetzt geht es uns vor allem darum, diese Informationen schnell zur Verfügung zu stellen. Diejenigen, die Hintergrundinformationen benötigen, können hier mit der russischen oder hier mit der ukrainischen Perspektive beginnen.

Am 24.02. haben Russ*innen an riskanten illegalen öffentlichen Demonstrationen im ganzen Land teilgenommen; in diesem Twitter-Thread könnt ihr Filmmaterial von mehreren Demonstrationen sehen.

Ukrainische Anarchist*innen riefen zu Demonstrationen vor russischen Botschaften und Konsulaten in aller Welt auf. Bisher liegen uns Berichte über Demonstrationen in Finnland, der Türkei, auf den Philippinen, Frankreich, der Schweiz und mehreren Städten in Deutschland vor (darunter Flensburg, Hamburg, Bonn, Berlin und Dresden). In Israel gab es Demonstrationen in Haifa und Tel Aviv. In den Vereinigten Staaten gab es Solidaritätsaktionen vor den Konsulaten in Seattle und anderen Orten. An vielen dieser Demonstrationen nahmen Hunderte von Menschen teil.

Wer für die Unterstützung der Anarchist*innen in der Ukraine spenden möchte, kann hier or here oder hier spenden. Es entsteht auch eine Solidaritätsstruktur zur Unterstützung von aus der Ukraine Geflüchteten. Hier kann Geld an das Anarchist Black Cross in Moskau, die verhaftete und inhaftierte Demonstrant*innen in Russland unterstützen, gespendet werden.

Am 24. Februar 2022 standen Anarchist*innen an der Spitze einer Demonstration für Frieden in der Ukraine und die Freiheit Russlands, die über den Twerskoj-Boulevard in Moskau in Richtung Puschkinskaja-Platz zum Arbat zog. Gegen 20 Uhr wurde die Demo am Timirjasew-Denkmal aufgelöst und die Polizei verhaftet viele Teilnehmende.


Statement von Food not Bombs Moskau

Eine eilige Übersetzung einer Erklärung von Food Not Bombs Moscow, das am 24.02. auf ihrem Telegram-Kanal erschien.

Wir werden uns nie auf die Seite dieses oder jenes Staates stellen, unsere Flagge ist schwarz, wir sind gegen Grenzen und skrupellose Präsidenten. Wir sind gegen Kriege und die Ermordung von Zivilist*innen.

Paläste, Jachten, Gefängnisstrafen und Folter für kritische Russ*innen – das alles ist Putins imperialer Bande nicht genug, sie sollen auch noch Krieg und die Eroberung neuer Gebiete bekommen. Und so fallen die ›Verteidiger des Vaterlandes‹ in die Ukraine ein und bombardieren Wohngebiete. Riesige Summen werden in Mordwaffen investiert, während die Bevölkerung immer mehr verarmt.

Es gibt Menschen, die nichts zu essen haben und nirgendwo unterkommen können, und zwar nicht, weil es nicht genug Ressourcen für alle gibt, sondern weil sie ungerecht verteilt sind: Der eine hat viele Paläste, während andere nicht einmal eine Hütte bekommen haben.

Um die Gewinne für sich zu behalten und zu steigern, erklärt die Regierung Kriege. Wer wird die Eingeweide mit den Händen einsammeln, wem werden Arme und Beine durch Explosionen abgerissen, wessen Familien werden ihre Kinder begraben? Selbstverständlich betrifft dies alles nicht die herrschende Minderheit.

Wir müssen uns dem militaristischen Regime und dem Krieg, den es führt, mit aller Kraft widersetzen. Verbreitet Informationen unter euren Mitstreiter*innen, kämpft, so gut ihr könnt. No War, but Class War. Solidarität statt Bomben.


Interview: Das Widerstandskomitee, Kiew

Wir führten ein Audio-Interview mit einem Sprecher des ›Widerstandkomitees‹, der neu gegründeten anarchistischen Koordinationsgruppe in der Ukraine. Sie werden hier öffentliche Anfragen darüber beantworten, was Anarchist*innen in der Ukraine tun und erleben. Wir haben das Interview während des Gesprächs transkribiert.

Das ›Widerstandskommittee‹ ist ein Koordinationszentrum, das Anarchist*innen verbindet, die sich auf verschiedene Weise am Widerstand gegen die Invasion beteiligen. Einige sind derzeit an der Front, andere berichten medial über die Verhältnisse im Widerstand – in der Hoffnung, denjenigen, denen die Ukraine fremd ist, die Situation in der Ukraine zu vermitteln und Anarchist*innen anderswo zu erklären, warum sie glauben, dass der Widerstand gegen Putin mit Befreiung verbunden ist. Das Projekt wird sich auch an einigen Unterstützungsprojekten der ukrainischen Zivilgesellschaft (bzw. dem, was davon im Zuge der Invasion noch übrig geblieben ist) beteiligen. In Mariupol beispielsweise haben einige Teilnehmer*innen dem Zentrum, das vom Krieg verwaiste Kinder aufnimmt, materielle Unterstützung zukommen lassen. Außerdem wird einigen Mitstreiter*innen bei der Flucht aus der Konfliktzone geholfen, ›Dutzende und Aberdutzende‹ von Anarchist*innen und Antifaschist*innen bleiben allerdings, um am Widerstand teilzunehmen.

Die Mitglieder des Komitees beobachten momentan, welche Projekte der gegenseitigen Hilfe in Kiew aus den Bemühungen der gesamten Bevölkerung hervorgehen und an welchen sie sich als Anarchist*innen am effektivsten beteiligen können.

Die Person, mit der wir gesprochen haben, befindet sich derzeit in Kiew; andere sind bereits abgereist, um an der Territorialverteidigung in den Regionen um Kiew teilzunehmen. In Kiew verlassen viele Menschen die Stadt, aber seit dem Morgen, als die russische Luftwaffe militärische Ziele in der Umgebung der Stadt angriff und auch einige zivile Wohngebiete in den Außenbezirken, darunter Brovary, traf (wobei Dutzende von Menschen getötet wurden) gab es keine Luftangriffe mehr.

In Kiew ist die Atmosphäre angespannt, aber es gibt noch keine Kämpfe in der Stadt, nur die Luftangriffe vom Morgen. Die Anarchist*innen haben bisher keine Verluste zu beklagen, sind aber ernsthaften Risiken ausgesetzt. Es ist eine schwierige Situation, aber bisher ist die Stimmung unter den Beteiligten gut.

Die meisten Beteiligten an diesem Projekt rechneten im Allgemeinen mit dem baldigen Beginn der Invasion, aber sie hatten nicht mit dem heutigen Tag gerechnet und waren auch mental nicht vollständig darauf vorbereitet. In der Tat haben sie monatelang geplant und vorbereitet, aber jetzt bemerken sie, was in ihren Vorbereitungen alles unvollendet geblieben ist. Dennoch haben sie in eiligen Sitzungen dieses Koordinierungsprojekt auf die Beine gestellt.

Der Sprecher beschrieb ihr unmittelbares Ziel: Es gehe nicht darum, den ukrainischen Staat zu schützen, sondern die Bevölkerung der Ukraine und die Form der ukrainischen Gesellschaft, die immer noch pluralistisch sei, auch wenn der ukrainische Staat selbst neoliberal und ein Nationalstaat mit Nationalismus und all den anderen schrecklichen Dingen sei, die damit einhergehen. »Unsere Idee ist, dass wir den Geist dieser Gesellschaft dagegen verteidigen müssen, dass er von Putins Regime zerschlagen wird, was die gesamte Existenz der Gesellschaft bedroht.«

Von diesem unmittelbaren Ziel ausgehend, sagte der Sprecher, dass sie hoffen, der russischen militärischen Aggression entgegenzutreten und gleichzeitig anarchistische Perspektiven sowohl innerhalb der ukrainischen Gesellschaft, als auch in der ganzen Welt zu fördern, um zu zeigen, dass Anarchisten in diesen Kampf involviert sind, dass sie darin Partei ergriffen haben – nicht auf Seiten des Staates, sondern auf Seiten der Menschen, die von der Invasion betroffen sind, auf Seiten der Gesellschaften der Menschen, die in der Ukraine leben.

»Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass sich die gesamte Bevölkerung gegen die Invasion wehrt. Selbstverständlich sind einige Menschen auf der Flucht, aber jede Kraft, die in die politische Entwicklung dieses Ortes in der Zukunft ein Interesse hat, muss sich jetzt auf die Seite der Menschen hier stellen. Wir wollen versuchen, in größerem Umfang mit den Menschen hier in Verbindung zu treten und uns mit ihnen zu organisieren. Unsere langfristige Aufgabe, unser Traum ist es, eine sichtbare politische Kraft innerhalb dieser Gesellschaft zu werden, um eine echte Chance zu erhalten, eine Botschaft der sozialen Befreiung für die Menschen zu fördern.«

In Reaktion auf die Aussage, dass sich »die gesamte Bevölkerung gegen die Invasion wehrt«, fragten wir nach, ob dies auch die Menschen in den ›Republiken‹, der Luhansker Volksrepublik [LNR] und der Donezker Volksrepublik [DNR], einschließt – den Regionen in der Ostukraine, die seit 2014 von den von Russland bewaffneten und finanzierten separatistischen Kräften besetzt sind und die Putin gerade als ›unabhängig‹ anerkannt hat.

»Ehrlich gesagt«, antwortete der Sprecher, »habe ich wenig Ahnung von den Menschen in den so genannten Republiken; ich lebe erst seit einigen Jahren hier« – aufgewachsen in einem Nachbarland – »und war noch nie im Südosten«. Es stimmt, dass es einige Sprachkonflikte gegeben hat, die von lokalen Rechtsextremisten unangemessen und stark verschärft wurden. Aus diesem Grund sahen wir in den ›Republiken‹ einige Menschen, die russische Staatsflaggen schwenkten, um die Truppen zu begrüßen, obwohl diese ›Unabhängigkeit‹ das Gegenteil bedeutet, nämlich die völlige Unterwerfung unter Putin. Gleichzeitig sahen wir in der Nähe der Schützengräben, auf der anderen Seite der Frontlinien, Tausende von Menschen, die die ukrainischen Nationalflaggen schwenkten. Auch das gefällt uns als Anarchist*innen nicht, aber es bedeutet, dass die Menschen bereit sind zu kämpfen – dass sie bereit sind, ihre Unabhängigkeit zu verteidigen, nicht nur als Staat, sondern als Gesellschaft.«

»Das ist die Kiewer U-Bahn. Verängstigte Menschen haben sich im Untergrund versammelt, um möglichen Bombenanschlägen des Putin-Regimes zu entgehen.«

Wir werden in Kürze weitere Berichte veröffentlichen.